Wie sind Sie zum Comic gekommen?
Juri Schigunow: So wie jeder Moskowiter meiner Generation - durch Zufall! Man sah zwar ab und zu mal eine Seite aus Pif Gadget [frz. kommunistisches Comicmagazin], aber ansonsten hatte man das Gefühl, die Sowjetunion sei der einzige Land in der Welt, in dem es keine Comics gibt. Dabei hatte man es in einer großen Stadt wie Moskau noch leichter als anderswo, denn wenn jemand ins Ausland reisen durfte, brachte er auch mal Comics mit.. Als mein Vater jünger war, hatte er einen Freund, den Sohn eines französischen Diplomaten. Als dieser Freund nach Frankreich zurück musste, überließ er meinem Vater seine Sammlung von Tintin-Heften. Die habe ich während meiner ganzen Kindheit verschlungen.
Wo waren Sie, als die Sowjetunion sich 1991 auflöste?
Ich war damals 24 und hatte zunächst ein Studium der Funktechnik für die zivile Luftfahrt begonnen. Danach habe ich zwei Jahre Militärdienst abgeleistet, als Funker, irgendwo im Südosten Sibiriens, in der Nähe von Wladiwostok, in der Mitte von Nirgendwo.
Da haben Sie sicher einen anderen Blick auf die Welt gekriegt...
Vor allen Dingen auf die Sowjetunion. Ich war mit ganz durchschnittlichen Sowjetbürgern zusammen, und das zwei Jahre lang. Das war öde, das war einfach zuviel!
Haben Sie etwas vom russischen Nationalismus mitbekommen, als die Sowjetunion zusammenbrach?
Russischer Nationalismus? Den gab es damals nicht.
Den muss es wohl doch gegeben haben, sonst hätten einige Leute nicht ein unabhängiges Russland ausgerufen.
Das lief nur auf Regierungsebene. Leute wie Jelzin wollten Präsident werden, ohne nach links und rechts zu gucken. Dafür wurde das Amt ja wohl geschaffen.
Sie waren Mitglied der kommunistischen Jugendbewegung, der Komsomol?
Ja. Aber sobald man nicht mehr zwingend dabei sein musste, habe ich mich verdrückt.
Wie wird ein junger Russe Comiczeichner?
Als ich aus der Schule kam und die Frage nach einem Beruf sich stellte, sagte ich mir: "Bloß nichts mit Zeichnen." Während der ganzen Schulzeit hatte ich zeichnen müssen; davon hatte ich die Nase voll. Aber als es dann ans Geldverdienen ging, 1989, erzählte mir ein Freund, er arbeite für ein Comicstudio.
In einem Land, in dem es keine Comics gab?
Ja, so wie in einem Land, in dem es noch keine Flugzeuge und Autos gibt, die Menschen trotzdem das Bedürfnis haben, zu reisen. Der Freund, Ilia Sawtschenkow, studierte eigentlich; Comics zeichnete er nur in seiner freien Zeit. So war das damals. Man gründete voller Begeisterung ein Studio, ohne zu wissen, wohin das führen sollte. Wir erfanden einen Beruf, den es nicht gab.
Wie sind Sie auf diesen Freund gekommen?
Wir hatten zusammen ein Glas getrunken (mehr als ein Glas). Comics interessierten mich damals eigentlich gar nicht so sehr, aber da ich nichts anderes zu tun wusste, habe ich eben mitgemacht. Ich zeichnete eine Science-Fiction-Geschichte von fünf Seiten; die gefiel ihnen. Da wir nirgends veröffentlichen konnten, brachte das nichts ein. Ein paar Monate später erschien dann ein erstes Comic-Heft. Ich weiß nicht, wer so verrückt war, das zu starten, aber gut, es kostete ja nicht viel. Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre gab es einen Haufen Verlage, die so schnell wieder verschwanden, wie sie gekommen waren. Vielleicht hat man damit auch Geld gewaschen. Für eine dieser Zeitschriften zeichnete ich 1991 eine 62-Seiten-Geschichte, wieder Science Fiction. Sie zahlten mir die Hälfte der vertraglich vereinbarten Summe, aber als ich fertig war, gab es den Verlag nicht mehr. Der Boss war mit der Kasse durchgebrannt; das sagte man jedenfalls. So was war damals nicht selten.
Und da haben Sie sich gesagt: Das ist alles nicht seriös, ich gehe besser zu richtigen Profis. Und dann haben Sie sich an das Magazin »Tintin« erinnert...
Ja, vielleicht. Ein alter Schulfreund von mir, Mikail Andrianow, reiste in den Ferien quer durch Europa. Als er wieder nach Hause kam, erzählte er mir, dass der Comic in Belgien und Frankreich eine richtige Industrie sei. Drei Jahre vorher hatte es in der Fremdsprachenschule von Moskau eine Ausstellung des Verlags Lombard-Dargaud gegeben. Dadurch hatte ich einiges dazugelernt. Man konnte da auch einige Alben kaufen, und sie verteilten Exemplare der Zeitschrift Hello BD, in der ich die Adresse der Editions du Lombard fand. Ich zeichnete ein ganzes Album, "Kriwtsows Briefe". Die Geschichte hatte ich aus einer meiner alten SF-Geschichten rausgesogen. Dann klemmte ich die Zeichnungen unter den Arm, setzte den Rucksack auf und fuhr zusammen mit meiner Frau per Anhalter nach Brüssel.
Per Anhalter!?
Na ja, nur von Berlin nach Brüssel. Wir hatten nicht viel Geld. Was ich hatte, hatte mir ein Freund geliehen. In Brüssel traf ich gleich an der Tür auf Raymond Leblanc, den damaligen Direktor, und er zeigte mir den Weg in die Redaktionsräume. Yves Sente, der Cheflektor, nahm sich drei, vier Wochen Zeit, dann beschloss er, mein Album zu veröffentlichen.
Und dann sind Sie drei Jahre lang zwischen Moskau und Brüssel hin- und hergependelt.
Vier- bis sechsmal im Jahr. Irgendwann ging es nicht mehr. Die Kosten für die Fahrt und das Hotel - auch wenn es das billigste war - fraßen den ganzen Vorschuss auf. Da wir eine kleine Tochter hatten, entschlossen wir uns, nach Belgien zu ziehen.
Haben Sie noch Kontakt zu Ihren Freunden in Moskau? Man sieht Ihre Zeichnungen auch auf der Website Ihres Freundes Andrej Ajoschin, mit dem Sie zusammen in einem Studio waren. Vielleicht gibt es dort ja noch mehr Zeichner, die den Weg nach Brüssel oder Paris wagen sollten.
Als ich aus Moskau wegging, sagte einer: Was denn, bist du hier nicht glücklich?" Nicht jeder will alles aufgeben und sein Land verlassen. Für mich war es damals auch keine leichte Entscheidung, aber jetzt sage ich ihnen immer wieder, sie sollen nur kommen.
Die Fragen stellte Didier Pasamonik im September 2003.