Frank Giroud, der Autor
Mit "Le Décalogue", wie "Zehn Gebote"« im Original heißt, hat sich Frank Giroud in die vorderen Ränge seiner Zunft vorgearbeitet. Auch in Deutschland wurde er gewürdigt: Auf dem Erlanger Comic-Salon von 2002 erhielt Giroud den
Max-und-Moritz-Preis als "Bester Autor".
Der am 3. Mai 1956 in Toulouse geborene Franzose, ein studierter Historiker, begann Ende der 70er Jahre Comics zu schreiben. Seine erste längere Serie war 1982 das politisch motivierte "Louis la Guigne" (Zeichnungen Paul Dethorey; dt. als "Louis Lerouge", nach 6
Bänden abgebrochen bei Ehapa). Weitere Titel folgten, von denen insbesondere die in der Zusammenarbeit mit dem Zeichner Lax entstandenen Alben überzeugen. "Les oubliés d'Annam" (1990/91) liegt bisher nicht auf deutsch vor, anders "La fille aux ibis" (1993; dt. "Die Frau aus dem Delta") und "Azrayen" (1998/99), die beide bei comicplus+ erschienen sind. Arboris hat sich des Detektivcomics "Mandrill" (Zeichnungen Barly Baruti; in der Reihe "Mord und Totschlag") angenommen.
2001 folgte der erste Band der Serie, die den Ruhm des Autors begründete: "Le décalogue" (dt. "Zehn Gebote" bei comicplus+). Während des Ägyptenfeldzugs macht ein Mitglied von Napoleons Expeditionskorps eine aufsehenerregende Entdeckung. Er stößt auf die zehn Gebote des Propheten Mohammed, geschrieben auf den Schulterknochen eines Kamels. Der Fund in der Wüste wird zur Grundlage eines zeitgenössischen Romans mit dem Titel "Nahik". In insgesamt zehn Alben inszenierte Giroud die spannende Geschichte eines humanistischen Regelwerks, das jüdische, christliche und islamische Vorstellungen in sich vereint. In der Anschluss-Serie "Zehn Gebote: Das Erbe" ("Le Légataire"; Zeichner Béhé; dt. bei comicplus+) warf der Autor schließlich noch einmal ein ganz neues Licht auf Mohammeds Dekalog.
Um ein mysteriöses Bild aus dem Mittelalter, das Ereignisse darstellt, die zur Zeit seiner Entstehung noch gar nicht geschehen waren, geht es in "Der Triumph des Heiligen Waldemar" (ab 2003; "L'Expert"; Zeichnungen Brada; dt. bei comicplus+). Ähnlich unkonventionell wie das rückwärts erzählte "Zehn Gebote" war die Serie "Quintett" angelegt (diverse Zeichner, ab 2005; dt. bei comicplus+), in der der Autor erneut das Thema des ineinander Verwobenseins individueller Schicksale aufgriff. In Frankreich folgten unter anderem "Le cercle de Minsk", das 14bändige "Destins", die über 20 Alben umfassende Serie "Secrets" und zuletzt die Serien "Galkiddek" (dt. im Splitter Verlag) und "Le Vétéran".
Am 13. Juli 2018 erlag Frank Giroud im Alter von nur 62 Jahren der schweren Krankheit (Knochenmarkskrebs), gegen die er lange gekämpft hatte.
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Von Wahrnehmung und Wahrheit
Auch wenn wir gewisse Wendungen in unserem Leben einem diffusen "Schicksal" zuschreiben, auch wenn in einigen Dingen "Glück" eine Rolle zu spielen scheint, geht man in unserem Kulturkreis grundsätzlich doch von dem Gedanken aus, das Leben des Menschen sei selbstbestimmt. Nur so handelt der Mensch auch eigenverantwortlich - ein für die Rechtsprechung unerlässlicher Gedanke.
Oberstes Ziel eines jeden ist es also, sein Leben "im Griff zu haben", durch Handlungen in Bahnen zu lenken, die wir für "richtig" erachten. Kaum einer macht sich Gedanken darüber, ob er die Welt, in der er lebt, in ihrem Grunde versteht. Dass das nicht der Fall ist, dass jeder Mensch einen eigenen Blick auf die Welt hat und dass dieser Blick mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht das wiedergibt, »was wirklich geschieht«, erfahren wir bei jeder Gelegenheit im Gespräch mit anderen.
Wenn wir aufgerufen sind, Ereignisse objektiv zu beschreiben, müssen wir versagen. Jede Beschreibung ist subjektiv, und in der Regel ist sie auch manipulativ, sei es aus dem Wunsch der Beeinflussung oder der Verteidigung. Wie verschieden ein und dasselbe Ereignis interpretiert werden kann, hat zum Beispiel Akira Kurosawa in seinem Film "Rashomon" behandelt. Auch "Quintett" beginnt damit, dass vier Menschen ihr Umfeld beschreiben, jeder auf seine Art, in der Ich-Form, ohne dass hinter diesen Aussagen eine Absicht zu erkennen ist. Jeder scheint die wenigen Wochen vor Ende des Jahres 1916 anders in Erinnerung zu haben.
Doch darum geht es dem Autor Frank Giroud nur am Rande. "In Quintett sind die verschiedenen Standpunkte nur die Fassade. Mich interessierte die Frage von Angeborenem und Erlerntem. Das wird aber erst in Kapitel 5 deutlich." Dass bei den Ereignissen von Pavlos Manipulation im Spiel sein könnte, ahnt der Leser zuvor nur aus den die Kapitel einrahmenden Seiten, auf denen zwei Menschen miteinander reden, die wir dem Geschehen nicht zuordnen können.
Auch Giroud manipuliert. Er fordert den Leser auf, aus den subjektiven Beschreibungen die "Wahrheit" herauszufiltern. Insofern ist "Quintett" auch eine spannende Detektivgeschichte. Es ist weit mehr als das, wie man rasch merkt - für alle handelnden Figuren ein persönliches Drama, für den Leser eine kunstvoll konstruierte Erzählung mit einem völlig überraschenden Ende. Aber das ist man vom Autor von "Zehn Gebote" ja nicht anders gewohnt.
Grafische Abstimmung
Interview mit dem Zeichner Cyril Bonin
Wie sind Sie zu "Quintett" gekommen?
Frank Giroud hatte mich vor ein paar Jahren einmal gefragt, ob ich an "Zehn Gebote" mitwirken möchte. Damals arbeitete ich mit Roger Seiter an "Fog" und war damit ausgelastet. 2003 schickte Frank mir die Szenarios von "Quintett". Ich war sofort eingenommen, sowohl von den verschiedenen Geschichten als auch von der Originalität des Ganzen.
Sie wussten von vornherein, wer die geheimnisvolle Person war, um die es in Kapitel 5 geht?
Ja! Ich kann nicht arbeiten, wenn ich nicht weiß, welche Botschaft eine Erzählung trägt und ob sie mir zusagt. Franks Konzept hat mich überwältigt. Er kommt zu einem völlig überraschenden Ende und berührt eine Frage, die jeden von uns angeht.
Haben sich die Zeichner im Guten geeinigt, wer welche Geschichte übernimmt, oder gab es Kämpfe?
Zum Glück wollte jeder etwas anderes, und so gab es keine Diskussion. Ich war sofort für Dora Mars entflammt. Ich hatte gerade einen Film über Mata Hari gesehen, der mich sehr beeindruckt hatte. Mata Hari lebte zur selben Zeit wie Dora, die zwar keine Spionin ist, aber doch eine starke, ambitionierte Frau, Eigenschaften die man auch bei Mata Hari findet.
Wie war Ihre Zusammenarbeit mit Frank?
Ich bekam anfangs das Exposé aller fünf Geschichten sowie eine Charakterisierung der Figuren - auch derjenigen, die nur mal kurz durchs Bild laufen. Dazu hunderte von Fotos, die Frank vor Ort gemacht hatte, und Bücher. Dann musste abgestimmt werden, dass alle Geschichten zusammengenommen schlüssig sind. Wir hatten einen guten Berater, Florent Germaine, dem ich sehr dankbar bin. Er weiß alles über Uniformen, Dienstgrade usw.
War das nicht ein enges Korsett?
Sicher enger als bei "Fog". Roger Seiters Szenarios sind nicht so genau wie die von Frank Giroud; sie bestehen weitgehend aus den Dialogen und ein paar Angaben zum Seitenaufbau. Ich war bei Roger völlig frei darin, wie ich die Seiten gestalte oder welche Bildeinstellungen ich wähle. Frank schickte mir immer zehn Seiten am Stück, mit sehr präzisen Anweisungen. Aber seine Inszenierung ist so natürlich und fließend, dass ich mich rasch in seine Geschichte einfinden konnte. Und dann war da die Fülle an Dokumentation: Ich habe zum erstenmal Militärfahrzeuge und Flugzeuge gezeichnet, und ich war dabei umgeben von einem Stapel von Büchern und Fotos. Dabei ist es eigentlich mein Ideal, mit einem Bleistift vor einem Blatt Papier an einem leeren Tisch zu sitzen.
Hat Frank einmal alle beteiligten Zeichner zusammengebracht?
Ja, zu Beginn der Arbeit, bei Dupuis. Später haben wir über Telefon und Mail kommuniziert. Und dann haben wir uns noch einmal getroffen, als es um die Gestaltung der Cover ging. Ansonsten arbeitete aber jeder für sich.
Wie ist es, wenn man sieht, wie die "eigene" Figur von anderen gezeichnet wird?
Das war spannend. Es war lustig zu sehen, wie Steve Cuzor und die anderen Dora interpretierten.
Und war es schwierig, die Figuren der anderen zu zeichnen?
Es war nicht ganz einfach. Man muss viel über diese Charaktere wissen, bevor man sie selbst zeichnet. Jeder hat seine eigene Art, wie er die Augen oder eine Nase zeichnet, und diese Eigenarten muss man kennen, damit am Ende alles passt. Die grafische Abstimmung war eine ziemliche Herausforderung.
Wer hat die geheimnisvolle Person aus Kapitel 5 definiert?
TBC, der den Band eigentlich zeichnen sollte, bevor er dann aus gesundheitlichen Gründen absagen musste. Das stellte uns vor ein interessantes Problem, denn wir alle zeichneten diese Person nach seinen Skizzen. Giancarlo Alessandrini, der Zeichner, der schließlich dieses Kapitel übernahm, musste also nicht alles selbst erfinden, sondern sich eher von den Vorarbeiten TBCs inspirieren lassen.
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Oben eine Seite aus "Die Geschichte der Dora Mars", gezeichnet von Cyril Bonin.
Originalalben und dreibändige Gesamtausgabe
1: Histoire de Dora Mars (2005; Die Geschichte der Dora Mars. Zeichner Cyril Bonin)
2: Histoire d'Alban Méric (2005; Die Geschichte des Alban Méric. Zeichner Paul Gillon)
3: Histoire d'Elias Cohen (2006; Die Geschichte des Elias Cohen. Zeichner Steve Cuzor)
4: Histore de Nafsika Vasli (2008; Die Geschichte der Nafsika Vasli. Zeichner Jean-Charles Kraehn)
5: La Chute (2007; Pavlos, Mazedonien, im Herbst 2016. Zeichner Giancarlo Alessandrini)
6: La Colline aux Serments (2009; Der Hügel der Versprechen. Zeichner Giancarlo Alessandrini)
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Oben eine Seite aus "Die Geschichte des Alban Méric", gezeichnet von Paul Gillon.
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