Martin Surmann (MS): Wie haben Sie damals Jean-Michel Charlier kennengelernt?
Patrice Pellerin (PP): Das hat Jean Giraud (der Zeichner von "Blueberry") vermittelt, dem ich meine Arbeiten gezeigt hatte. Sie haben ihm ganz gut gefallen und er hat mich dann Jean-Michel Charlier empfohlen. Charlier suchte einen Zeichner, der "Der Rote Korsar" nach dem Tode von Jijé übernehmen konnte.
MS: Wie gestaltete sich die Zusammenarbeit mit Charlier?
PP: Das ging eigentlich ganz einfach. Bei unserem ersten Treffen im Restaurant Le Fouquet's auf den Champs-Elysées hat er sich meine Zeichnungen angesehen und mir vorgeschlagen, mit ihm an "Der Rote Korsar" zu arbeiten. Daraufhin machte ich einige Skizzen der Hauptpersonen, mit denen er einverstanden war. Er versprach mir, die Texte in einigen Wochen zukommen zu lassen. Da ich seinen Ruf als ewig zu später Szenarist kannte, erwartete ich die Texte nicht vor Ablauf eines Jahres. Überraschenderweise erhielt ich die ersten beiden Seiten von "Die goldene Flotte" dann wirklich einige Wochen später. Ich zeichnete die Seiten, er gab mir sein OK und sagte, daß ich in Bälde die nächsten Seiten bekäme. So lief das ab... acht Jahre lang.
MS: Und die regelmäßige Kommunikation? Wie ging die vonstatten?
PP: Wenn ich neue Texte benötigte, haben wir normalerweise telefoniert. Jean-Michel hat sie mir dann per Post zugeschickt oder auch gleich mitgegeben, wenn ich eh bei ihm war, um ihm die vorhergehenden Seiten zu zeigen. Aber alles verzögerte sich stark, da er extrem beschäftigt war. Wir sahen uns recht häufig, weil er nicht weit entfernt von mir wohnte und wir ziemlich oft zusammen gegessen haben. Das war ein Kindheitstraum, mit ihm zusammenzuarbeiten. Er war wirklich bewundernswert.
MS: Kontrollierte Charlier auch die Skizzen?
PP: Er hat mich nie gebeten, ihm meine Vorzeichnungen zu zeigen. Er sah sich die getuschten Seiten einmal an und hat mich niemals auch nur ein einziges Bild neu zeichnen lassen. Von Anfang an hat er mir Vertrauen entgegengebracht und ließ mir die größtmögliche Freiheit. Bei unseren ersten Zusammenkünften sagte er mir, wie er sich die handelnden Personen oder den Stil der Serie vorstellte. Er wünschte sich, daß meine Zeichnungen realistischer als die von Hubinon seien und viel näher an denen eines Jean Giraud lägen. Das war gefiel mir sehr gut, denn Giraud war mein Lieblingszeichner.
MS: Haben Sie nochmals einige Alben von Hubinon gelesen, um z.B. die Atmosphäre in "Der Rote Korsar" einzufangen?
PP: Ich habe die ganze Serie einmal gelesen. Vorher kannte ich sie praktisch kaum. Aber das hat mir nicht viel gebracht. Genau wie Charlier habe ich mich eher an Piratenfilmen mit Errol Flynn orientiert, oder an Gemälden und Stichen aus dem 18. Jahrhundert.
MS: Wie entstand die Idee zu "Das Zeichen der Adler"?
PP: Als Charlier mir seine Szenarien nur scheibchenweise lieferte, habe ich versucht, selber ein Szenario zu entwerfen, nur um mal zu sehen. Ich nahm eine Idee einer Geschichte, die ich während meiner Militärzeit geschrieben hatte, wieder auf und bearbeitete sie. Ich wählte ein Schloß aus, das ich einige Jahre zuvor besucht hatte, und fand Dokumentationen über Örtlichkeiten und Geschichte jener Epoche. Nachdem ich all dieses zusammengebastelt hatte, war "Das Zeichen der Adler" geboren.
MS: Hat Jean-Charles Kraehn zu jener Zeit auch in Ihrer Nähe gewohnt?
PP: Damals wohnte ich nahe bei Paris, in Meudon. Und Jean-Charles wohnte direkt in Paris. Eines Tages besuchte er mich in meinem Atelier mit einem Stapel Zeichnungen unter seinem Arm und fragte, was ich davon hielte. Wir waren zwar gleich alt, aber ich arbeitete ja schon einige Zeit in diesem Metier. Die nächsten Monate kam er regelmäßig vorbei. Ich habe ihm alles beigebracht, was ich wusste, und wir wurden sehr gute Freunde. Als ich die Idee zu den "Adlern" hatte, dachte ich auch sofort an ihn für die Zeichnungen.
MS: Und wie entstand "Der Schrei des Falken"?
PP: Die Idee zu "Der Schrei des Falken" stammt zuallererst aus Landschaft und Dekor. Meine Frau und ich wohnten damals in der Provence und verbrachten unsere Ferien jedes Jahr in der Bretagne, wo meine Verwandtschaft zuhause war. Also besuchte man die Burg von Brest und die Halbinsel von Crozon. In dieser graphisch sehr reizvollen Umgebung wollte ich meine neue Serie ansiedeln. Da ich einen ganzen Haufen an Dokumentationen über das 18. Jahrhundert für "Der Rote Korsar" angesammelt hatte, mich jene Zeit zudem sehr ansprach und ich es liebte Schiffe zu zeichnen, entschied ich mich, in dieser Richtung weiterzumachen.
MS: Woher stammen die Namen Yann de Kermeur und "Der Falke"?
PP: Kermeur ist der Name eines kleinen Städtchens auf der Halbinsel von Crozon, während "Der Falke" der Spitzname eines kleinen Schmugglers war, der im 17. Jahrhundert in dieser Gegend lebte.
MS: Sie mögen die Historie. Insbesondere das Genre Piraten und Korsaren?
PP: O ja! Sehr! Genau wie Charlier liebe ich alles, was mit diesem Genre zusammenhängt. Ich liebe "Treasure Island" ("Die Schatzinsel") und "Moonfleet" ("Schloß im Schatten") oder alle Arten von Piratenfilmen wie "Captain Blood", "Seahawk" usw. Und aus dieser Ader sprudeln die Entwürfe für meine Alben.
MS: Wie gehen Sie normalerweise bei Ihrer Arbeit vor?
PP: Nach dem Schreiben des Szenarios schicke ich dieses an den Verlag Dupuis. Wenn sie ihr OK gegeben haben, fange ich mit den Bleistiftzeichnungen an, wobei ich einige Details am Leuchttisch bearbeite. Insgesamt fertige ich aber niemals mehr als drei bis vier Seiten an, die ich dann gleich tusche und koloriere. Für die Farben benutze ich Gouache. Abschließlichend mache ich noch das Lettering selbst.
MS: Ist "Der Schrei des Falken " auch eine Hommage an "Der Rote Korsar"?
PP: Absolut! "Falke" ist ja auch der Name des Schiffs vom Sohn des roten Korsaren. Als Charlier 1989 starb, haben mich seine Frau und sein Sohne gefragt, ob ich die Serie alleine weiterführen möchte. Ich schrieb also ein Szenario von 46 Seiten, was mein dritter "Roter Korsar" werden sollte. Ich habe sogar die ersten zehn Seiten gezeichnet... und dann hörte ich auf, als die ganzen Probleme mit der Erbschaft von JMC aufkamen. Die Nachfahren klagen ihre Rechte ein, die Verleger ebenso. Und außerdem interessierte es mich nicht mehr ohne Jean-Michel an dieser Serie zu arbeiten. Ich zog es vor, ganz alleine eine kleinere Serie zu machen, ohne darauf achten zu müssen, wieviel Geld sie für irgendjemanden einbringt. Also habe ich mein Szenario vom "Roten Korsar" so bearbeitet, dass es schließlich das von "Der Schrei des Falken" wurde. Dies erklärt auch die erkennbaren Ähnlichkeiten zwischen den Figuren beider Serien.
MS: Das dritte Album, "Die Medusa läuft aus". spielt in Brest. Hatten Sie den Wunsch, ein Szenario speziell in Ihrer Geburtsstadt anzusiedeln?
PP: Nein. Zu Anfang interessierten mich nur die Landschaften. Denn schließlich habe ich niemals direkt in Brest gelebt und wohne auch erst seit sechs Jahren wieder in der Bretagne. Für die Geschichte habe ich eine Menge an Dokumentation gefunden und es macht mir sehr viel Spaß, diese Stadt nachzubilden, von der praktisch kaum etwas aus der Vergangenheit übriggeblieben ist.
MS: Und beim vierten Album?
PP: Nachdem die ersten drei Alben in der Bretagne spielten, erzählt der vierte Teil von der Überfahrt nach Südamerika, handelt also vollständig auf dem Meer. In den Bänden fünf und sechs wird der "Falke" dann in Guayana seine Abenteuer erleben.
MS: Patrice, vielen Dank für das Gespräch.
Martin Surmann hat Patrice Pellerin 1999 für ZACK interviewt.